Ich glaube, dass das Thema Geschlecht erst zu einem Thema wird, wenn es gesellschaftlich auch das Konzept Geschlecht und die damit verbundenen Verbote und Pflichten gibt, an die man als abweichendes Individuum anecken kann, weil man nicht so sein darf, wie man ist, und deswegen eine Sanktionierung erfährt. Erst in diesem gesellschaftlichen Kontext wird das Geschlechtswesen sichtbar und kann wohl überhaupt näher beschrieben werden, wird somit zum Geschlechtswissen.Rosi hat geschrieben:Existiert ein Wissen ("Geschlechts-Wissen") um sein Geschlecht ähnlich einer Charaktereigenschaft oder Talents (geschlechtliches Wesen)?
Für mich ergeben sich aus einer körperlichen Prägung bestimmte Neigungen, Verhaltensmuster, Denkweisen, Bedürfnisse, usw., die im Laufe der Menschheitsgeschichte das Verständnis der beiden Geschlechter Mann und Frau geprägt haben. Geschlechtstypisches Verhalten ist dabei die Folge eines intrinsischen und in der Regel unbewussten Bedürfnisses, weil dadurch eine maximal glücklich machende Lebensweise ermöglicht wird. Wenn Frauen statistisch lieber kommunikative Berufe wählen, dann weil sie gerne kommunikativ sind und das mit ihrem geschlechtlichen Wesen resoniert. Für mich sind unterschiedliche Geschlechterrollen also vor allem ein Resultat von unterschiedlichen geschlechtlichen Befindlichkeiten, die den Menschen immanent sind.
Es spielt die Rolle, dass man bestimmte Bedürfnisse hat, die ggf. nicht befriedigt werden. Die immanenten geschlechtsspezifischen Eigenschaften drücken sich in diesen Bedürfnissen aus und sind entweder im Einklang mit dem eigenen Leben oder stehen im Widerspruch. Welchen Einfluss das auf die Entwicklung einer Person hat, kann wohl höchst unterschiedlich sein. Es wird aber mit Sicherheit einen großen Einfluss haben, wenn man sein ganzes Leben lang quasi entgegen seine eigenen Bedürfnisse lebt, auch wenn man das selbst nicht mal weiß.Rosi hat geschrieben:Wenn ja, welche Rolle spielt das für das geschlechtliche Leben (Entwicklung) eines Menschen?
Die Geschlechtsidentität ist die bewusste Affirmation einer bestimmten Geschlechtszugehörigkeit, die aus dem geschlechtlichen Wesen und dem Wissen darüber resultiert. Wobei es Ausnahmen gibt, denn dann wenn man sich irrt und sich beispielsweise zunächst für einen Mann hält, obwohl man eigentlich vom geschlechtlichen Wesen her eine Frau ist, was einem aber (noch) nicht bewusst sein kann. Das liegt dann aber daran, dass der Erkenntnis aufgrund des gesellschaftlichen Verständnisses von Geschlecht, die auf körperlichen Merkmalen basiert, Steine in den Weg gelegt werden.Rosi hat geschrieben:Gibt es ggf. neben dem "Geschlechts-Wissen" auch eine "Geschlechts-Identität"?
Ich glaube ich weiß, worauf du hinaus willst. Du willst sagen, dass man ohne die sozial konstruierte Rolle auch keine Anhaltspunkte hätte zu einer Geschlechtsidentität. Stimmt, eine transsexuelle Hündin "empfindet" sich wahrscheinlich nicht als das andere Geschlecht. Sie reflektiert darüber schlichtweg nicht, wie oder was sie ist. Wie ich eben schon sagte, ist Geschlechtsidentität eine bewusste Affirmation, für die es gewisse Rahmenbedingungen braucht, damit diese möglich wird, und dazu gehört eine gesellschaftliche Definition der Geschlechter und das was man damit allgemein verbindet.Rosi hat geschrieben:Welche Faktoren führen ggf. zur Bildung einer "Geschlechts-Identität (über was identifiziert man sich geschlechtlich)?
Aber es ist halt die Frage, über was man spricht. Für mich ist Geschlecht dann relevant, wenn es im gesellschaftlichen Miteinander passiert, wenn man vom anderen Menschen als "er" oder "sie" spricht und Namen wie Paul oder Paula verwendet. Gäbe es dieses soziale Geschlecht nicht, dann wäre Geschlecht in der Praxis komplett irrelevant, denn es wäre einfach jeder einfach so wie er ist und gut. So wie sich eine transsexuelle Hündin wohl auch anders verhält als ein Rüde, aber das niemanden wirklich interessiert und die Hündin einfach so leben kann wie sie eben ist.
Geschlecht wird dann zum Thema, wenn z.B. ein transsexuelles Mädchen mit Puppen spielen möchte, weil das zu seinem geschlechtlichen Wesen passt, und das Umfeld ihm das nicht gestattet, dann kommt es zum Konflikt. Und wenn dieses Mädchen immer beobachtet, dass die Dinge, die andere Mädchen tun, gegen seinen Willen für es verboten sind, und es stattdessen die Dinge, die Jungen tun, gegen seinen Willen tun soll, dann zieht es wohl irgendwann den Schluss, ein Mädchen und kein Junge zu sein. Dann bildet sich anhand der beobachteten sozialen Rollen eine Geschlechtsidentität heraus, die vom körperlichen Geschlecht abweicht. Wenn man mehr Deckung mit dem "anderen" Geschlecht empfindet, weil man Eigenschaften und Lebensweisen beobachtet und mit den eigenen Bedürfnissen abgleicht, und dann zu dem Schluss kommt, dass man glücklicher wäre, wenn man als das andere Geschlecht leben könnte und die auferlegten Verbote und Pflichten im Einklang mit einem selbst wären.