Okay, jetzt möchte ich doch mal meine konkrete Sichtweise zu dem ganzen Thema erläutern und wie ich dahin gelangt bin. Das hätte ich vielleicht von Anfang an tun sollen, damit ich nicht so missverstanden werde. Begriffe sind jetzt Schall und Rauch in diesem Kontext und ich will auch niemanden damit irgendwie einordnen oder einen Stempel aufdrücken. Ich verwende jetzt einfach mal die Worte, mit denen ich das irgendwie ausdrücken kann. Ich bitte das zu berücksichtigen. Ich muss es halt irgendwie benennen und in Worte fassen, was ich meine. Vielleicht wird dadurch klar, dass ich nicht stellvertretend für irgendjemanden stehe und irgendeine feindliche Agenda verfolge. Ich mache mir einfach gerne viele Gedanken. Also los.
Natürlich habe ich unmittelbar nach meinem "Aufwachen" versucht, das ganze Thema zu verstehen. Was bin ich? Was will ich? Was bin ich nicht? Was will ich nicht? Was erhoffe ich mir? Wovor habe ich Angst? Bilde ich es mir nur ein? Ist es real? Was ist die Ursache? Wohin wird das führen? Kann ich damit aufhören? Will ich das? Welche Konsequenzen muss ich tragen? Wie reagieren andere? Tausend Fragen. Und am Anfang stand völliges Chaos. Also fing ich irgendwo an. Das erste Mal Googeln nach "transsexuell". Zunächst Standardinformationen aus bekannten Quellen wie Wikipedia. Langsam formte sich ein Bild, dass ich permanent mit mir abglich. Und immer wenn ich meinte, dass ich von diesem Bild abweichte, hatte ich Sorge, dass ich es doch gar nicht bin. Fragen wie "Muss ich meinen Penis wirklich hassen?" oder "Hätte ich nicht schon mit drei Jahren klar erkennen müssen, dass ich ein Mädchen bin?" sorgten früh für Zweifel.
Ich wollte Beweise. Am besten irgendetwas Messbares, das mir klar bescheinigte: Ich bin es oder ich bin es nicht. Und ich fand durchaus naturwissenschaftliche Erklärungsansätze. Nichts absolut Hieb- und Stichfestes, aber etwas, das schon Hand und Fuß hatte: Dass zu wenig Testosteron während einer bestimmen embryonalen Entwicklungsphase im Mutterleib für eine Verweiblichung oder eine weibliche Prägung bei einem Embryo sorgt. Studien deuteten darauf hin, dass es tatsächlich so etwas wie ein Gehirngeschlecht gab, dass wir während der Entwicklung eine Prägung erhalten, die uns später auf wundersame Weise ein Gefühl für unser Geschlecht gibt und diverse Eigenschaften wie kognitive Fähigkeiten und emotionales Erleben geschlechtlich einfärbt. Das wurde auch mit Tierversuchen bestätigt. Eigentlich männliche Mäuse verhielten sich bei zu wenig Testosteron während ihrer Entwicklung in der Mutter später eher wie Weibchen. Umgekehrt ließ ein Testosteronüberschuss eigentlich weibliche Mäuse sich eher wie Männchen verhalten. Damit war zumindest mir absolut klar: Es gibt eine biologische Ursache und so etwas wie ein Gehirngeschlecht, völlig unabhängig von einem sozialen Einfluss. Die Mäuse wussten nichts über Transsexualität, Geschlecht und hatten auch keine Gesetze, Normen oder Tabus, die sie in irgendeiner Form beeinflusst haben könnten. Aber mir stellte sich dann trotzdem noch die Frage, ob das denn auch bei mir tatsächlich so wäre. Hatte ich wirklich zu wenig Testosteron abbekommen? Dann fand ich Informationen, dass der embryonale Testosteronspiegel sich auch sichtbar auf den Körper auswirken könnte. Das war ebenfalls nicht absolut hieb- und stichfest bewiesen, aber auch hier hatte es Experimente gegeben, die dem ganzen Hand und Fuß gaben. Und zwar sollte das Fingerlängenverhältnis zwischen Zeige- und Ringfinger ein Indiz für jene Unter- oder Überversorgung mit Testosteron sein. Frauen hatten meist einen längeren oder zumindest gleichlangen Zeigefinger als/wie den Ringfinger. Bei Männern war es üblich, dass diese einen längeren Ringfinger besaßen. Also analysierte ich meine Hand und sah: Der Zeigefinger war länger. Das war für mich wie ein Triumph. Quasi ein Durchbruch. Damit hatte ich wirklich etwas, das über "bloße Gefühle" hinausging, und mir etwas "Handfestes" an die Hand gab. Das habe ich genau gebraucht. Damit hatte ich erst mal ein solides Fundament, auf dem ich stehen konnte. Aus dem Sumpf, der mich zu verschlingen drohte, wurde ein gangbarer Weg.
Und so entwickelte ich im Tandem mit den Informationen, die ich im Internet aus mannigfaltigen Quellen erhielt, meine eigenen Theorien zur Entstehung von Transsexualität und wie sich diese biologische Ursache letztlich auf alle möglichen Bereiche des Lebens auswirkte, seien es körperliche Eigenschaften, kognitive Fähigkeiten, emotionale Aspekte, Bedürfnisse oder Dränge. Ich wollte verstehen was Geschlecht wirklich bedeutet und dabei körperliche und geistige Aspekte in Deckung bringen. Dass Geschlecht rein sozial sei, war für mich von Anfang an widerlegt durch die Forschung. Nun war die Frage, wie genau sich diese scheinbar winzige Ursache später auf den Menschen auswirken würde. Wieso fühlt jemand sein Geschlecht? Woher kommt dieses Bewusstsein und dieses Wohlbefinden, wenn sich Körper- und Gehirngeschlecht im Einklang befinden? Und wieso ist es so ein riesiges Problem, wenn dieser Einklang fehlt, wenn sich Körper und Gehirn widersprechen? Und wie genau äußert sich Geschlecht bei Menschen basierend auf diesem inneren Geschlechtskompass? Was ist von diesem Gehirngeschlecht beeinflusst und was ist nur sozial übernommen? Auch hier entwickelte ich meine eigene Theorie, nach der sich zwar viele Dinge am Ende stark sozial geprägt ausbilden, wie z.B. die vermeintlichen Lieblingsfarben von Jungen (blau) und Mädchen (rosa). Es war einerseits klar, dass diese Farben eigentlich willkürlich gewählt sein mussten, weil diese Farben auch schon mal andere waren, aber dennoch musste es einen Grund geben, warum sich Mädchen doch oft so zu Rosa hingezogen gefühlt haben. Und der Grund lag für mich auf der Hand: Die Farbe selbst war nicht ausschlaggebend. Es war die weibliche Konnotation, die die Gesellschaft dieser Farbe gegeben hatte, die die Mädchen anzog. Mädchen wollten weiblich sein. Die Farbe rosa stand für Weiblichkeit. Ergo fühlten sich Mädchen zu dieser Farbe hingezogen.
Gleichwohl war es für mich auch eine logische Folgerung, dass es sich hierbei nicht einfach um eine Entweder/oder-, Ja/nein- oder Ganz/gar-nicht-Angelegenheit handeln konnte. Die Grenzen mussten fließend sein. Was, wenn der Testosteronmangel mehr oder weniger stark ausgeprägt war? War dann auch die weibliche Prägung unterschiedlich stark? Ich stellte es mir in etwa so vor, dass man Geschlecht als großes Ganzes auf einer Skala einordnen konnte, einer Skala zwischen männlich und weiblich. Aus einem männlichen Embryo mit hohem Testosteroneinfluss müsste später ein sehr männlicher Mann werden, der sich in seinem Körper wohlfühlt und die typischen Eigenschaften seines Geschlechts besitzt. Diesen würde ich auf der Skala ganz auf der männlichen Seite einordnen. Umgekehrt würde aus einem weiblichen Embryo mit sehr geringem Testosteroneinfluss eine sehr feminine Frau werden mit all den typischen Eigenschaften, die man den Frauen zuschreibt. In letzter Konsequenz bedeutete dies aber auch, dass es nach der Gauss'schen Normalverteilung Menschen geben musste, die nicht so eindeutig an den Enden der Skala einzuordnen waren. Manche würden in der Mitte stehen, manche irgendwo anders. Körperlich weibliche Menschen konnten irgendwo im männlichen Bereich liegen. Körperlich männliche Menschen irgendwo im weiblichen. Kurzum: Alles war möglich. Transsexualität stellte ich mir somit als den Zustand vor, dass ein betroffener Mensch nicht wie die meisten Menschen relativ weit auf der eigenen Seite der Geschlechterskala einzuordnen war, sondern irgendwo auf der anderen Seite des anderen Geschlechts. Somit war auch eine leichte oder eine schwere Form von Transsexualität möglich. Was, wenn man die Grenze zum anderen Geschlecht nur so gerade eben überschritt? Was wenn man noch kurz davor blieb? Der letztere Fall erklärte für mich "feminine Männer" oder "maskuline Frauen", die sich noch immer als ihr körperliches Geschlecht begriffen. Dabei war aber die konkrete Grenze, bei der jemand für sich erkennt, dass er eigentlich zum anderen Geschlecht gehört, individuell verschieden und hing von einer Vielzahl Faktoren ab wie Wissen oder Lebensumständen. Menschen, die sich keinem oder beiden Geschlechtern gleichermaßen zuordneten, lagen für mich irgendwo in der Mitte. Sie hatten ausgewogene Anteile und konnten sich daher schwer einordnen. Sie lagen von beiden Geschlechtern gleich fern oder nah entfernt. Ich hielt es aber auch für möglich, dass man nicht einfach nur auf einer Skala einzuordnen ist, sondern dass für die verschiedenen Eigenschaften, die einen Menschen ausmachen, eine separate Skala existiert. Man konnte also bei einer Eigenschaft eher männlich, bei einer anderen Eigenschaft eher weiblich geprägt sein. Daraus ließ sich dann aber (ggf. nach geeigneter Gewichtung) ein Durchschnitt bilden, und sich so doch wieder eine Einordnung auf einer Gesamtskala vornehmen. Das sollte lediglich als Denkansatz dienen, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen und nicht bloß einer. Das erschien mir plausibler, aber war letztlich nur eine Verfeinerung des Modells, die dessen Grundaussage nicht infrage stellte.
Alles ergab Sinn. Die Lösung war gefunden. Ich hatte es geschafft, reale körperliche Ursachen mit dem scheinbaren Gegenspieler Sozialisation zu vereinen und eine schlüssige Erklärung für alle existierenden Varianten von Transkonditionen zu finden. Für mich war somit das Rätsel von Geschlecht gelöst, zumindest auf dieser fundamentalen Ebene betrachtet. Und diese Sichtweise, die ich mir selbst aus den ganzen Quellen, Theorien, Experimenten, usw. erarbeitet hatte, prägt jetzt maßgeblich meine Vorstellung davon, was Transsexualität eigentlich ist, und meine Gewissheit, davon auch selbst betroffen zu sein. Ich kann mich auf der Skala einordnen und ich sehe mich definitiv im weiblichen Bereich. Und es ist diese Theorie, die mir ganz klar sagt, dass es nicht mehrere Ursachen, mehrere völlig voneinander getrennte Dinge gibt, sondern dass letztlich alles mit dieser Einheitstheorie zu erklären ist. Das ist die treibende Kraft dahinter, warum ich einen einzigen Oberbegriff favorisiere, der alle Transkonditionen unter einem Dach vereint. Und das ist wohl genau der Grund, weshalb ich Begriffen wie Transgender oder Trans* so zugeneigt bin, völlig unabhängig von dem, was andere Institutionen, Aktivisten oder sonst welche Menschen oder Gruppen in diesen Begriffen sehen und was sie damit bezwecken wollen.
Vielleicht versteht mich jetzt jemand?
PS: Und bezogen auf diesen ganzen Konflikt hier: Die Sache ist einfach die, dass all die Aussagen von denen, die sich hier als (echte) Transsexuelle bezeichnen, meiner Theorie überhaupt nicht widersprechen. Im Gegenteil. Sie werden perfekt erklärt. Aber gleichzeitig werden auch Phänomene wie "genderqueer" oder "non-binär" dadurch erklärt. Ihr habt mir also nie widersprochen. Aber die Behauptung, dass Transsexualität etwas ganz anderes sei als Transgender oder Trans* und überhaupt keine Deckung hätte, erschien mir nach meiner Theorie einfach nicht schlüssig. Es gibt einen Grundsatz, der nennt sich Ockhams Rasiermesser:
- Von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt ist die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen.
- Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält, und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt logisch folgt.
Warum sollte es zwei unterschiedliche Phänomene geben, die sich augenscheinlich so ähnlich sind? Das liegt für mich zumindest nicht nahe. Zumal es nach meiner Theorie auch falsch wäre, alle die nicht "klassisch transsexuell" sind, einfach auf eine rein soziale Komponente zu reduzieren. Die körperlichen Ursachen gelten für alle gleichermaßen. Auch kann damit selbst die Neigung eines einfachen Transvestiten erklärt werden: Es gab lediglich einen kleinen Einfluss auf bestimmte Bereiche. Letztlich sehe ich das Bestreben eines Transvestiten nach einer weiblichen Ausdrucksform, sofern für diesen damit starke Gefühle verbunden sind (er es also beispielsweise nicht einfach nur aus Geldgründen macht), auch als Ausdruck einer weiblichen Prägung in irgendeiner Form, nur längst nicht so stark und eindeutig ausgeprägt wie bei einem "reinen Transsexuellen". Für mich ist die Idee, dass es mehrere völlig voneinander unabhängige Phänomene wie (echte) Transsexualität, Transgender, Transvestitismus, usw. gibt, einfach nicht naheliegend aus logischer Sicht. Meine eine Theorie erklärt alles gleichermaßen. Und deswegen sträubt sich bei mir etwas in meinem Logikzentrum, wenn jemand Gegenteiliges behauptet. Deswegen habe ich hier immer wieder kontra gegeben. In mir sträubte sich einfach etwas. Auf mich wirkte die Unterscheidung, dass es einerseits Transsexualität gäbe und andererseits den ganzen Rest, dadurch absolut willkürlich. Eine willkürliche Grenzziehung, ohne erkennbares System dahinter.