Frank hat geschrieben:Hallo Seerose,
vielleicht liegt die Problematik ja auch an den Grundlegenden psychologischen und soziologischen Ansätzen?
Ja, wie ich in meinen "Vorbemerkungen" bereits schrieb, liegt hier Einiges, um nicht zu sagen (fast) "Alles" im Argen!
Frank hat geschrieben:Lass uns mal schauen wer mit welchen "Entwicklungstheorien" jeweils das Bild von Identität und Identitätsentwicklung geprägt hat?
Freud zum Beispiel war der festen Überzeugung das seine "Beschreibung der Geschlechtsbezogenen Identitätsentwicklung" richtig ist,...
Hier würde ich dann gern noch Piaget als Aspekt zur Widerlegung anbringen, die Phasen "Egozentrismus" und "Phallische Phase" finden größtenteils zur "gleichen Entwicklungszeit " statt. Aber ein egozentristisch Orientiertes Kind kann letztlich nur das "eigene" (egozentristisch Wahrgenommene) Geschlecht (Empfinden/Wahrnehmen) als DAS Geschlecht sehen.
Da sprichst Du etwas sehr Wichtiges an: Egozentrismus und Phallische Phase mögen ja für meinetwegen zeitgleich stattfinden, aber wie soll sich dieses "Phänomen" denn bitteschön z.B. bei weiblichen TS-Kleinkindern "abspielen", die einerseits die "organischen Voraussetzungen" für die hypothetische Phallische Phase "mitbringen", von denen aber Viele bereits in frühkindlichem Alter
ein eindeutiges und ungebrochenes Wissen über ihre Weiblichkeit haben. Im Lichte dieser ts-Kleinkinder betrachtet: einfach absurd!!! Nun gut - oder auch nicht! Der Herr Freud mag in seiner Zeit und Praxis mit Sicherheit kein (durchschnittlich-normales) ts-Kind erlebt haben. Sein Konzept zeichnet sich ja auch nach seinem "Selbst-Verständnis" dadurch aus, daß
seine "Beschreibung der Geschlechtsbezogenen Identitätsentwicklung" richtig ist,..., wie Du dies so nett schreibst...
Demgegenüber geht ein methodisch kognitiv ausgerichteter Psychologe wie Jean Piaget hypothesenprüfend vor, und gewinnt so sein empirisch-fundiertes Erkenntnis-Wissen. Wie wohl ich den guten Piaget sehr schätze, hat er sich aber meines Wissens nie zu so etwas wie "psychosexuelle Entwicklung" näher geäußert. Ich finde es aber dennoch interessant, sich in diesem Zusammenhang auf Piaget zu beziehen, denn immerhin hat er mit seinem "Drei-Berge-Versuch" nachgewiesen, daß die kognitiven Fähigkeiten eines Kleinkindes nicht vor dem Alter von frühestens drei Jahren so weit ausgereift sind, eine perspektivische Abschätzung über Höhenunterschiede der drei Berge zutreffend vorzunehmen, wonach nicht zwangsläufig der einem am höchsten erscheinende, zur eigenen Position am nächsten gelegene Berg auch tatsächlich der höchste der drei Berge sein muß...Das bedeutet aber zugleich, daß im Falle der o.g. ts-Kleinkinder deren Wissen über ihr zentrales Selbst nicht kognitiv verarbeitet, als von Außen an das Kind herangetragen worden sein kann! Ich spreche im Zusammenhang mit
diesem Selbst-Wissen auch von der
"prä-kognitiven Geschlechtsidentität", die man z.B. bei ts-Kleinkindern antreffen
kann.
Frank hat geschrieben:Wenn wir nun auch noch Eriksen anschauen (dessen Modell auf dem von Sigmund und Anna Freud jeweils) aufbaut und welches dann auch noch an den "normalitäten" der "mittelamerikanischen Familien" orientiert entwickelt wurde, wird klar das hier ein Bild von Identität und Identitätsentwicklung herauskommt das weder Zeitgemäß noch wirklich so realistisch ist wie es von Eriksen angenommen wurde.
Ja, es ist wichtig, diese historischen Denkmodelle als solche zu behandeln! Zwar ist das Modell der Bewältigung von Lebensaufgaben in unterschiedlichen Lebensphasen ja ganz nett und erbaulich anzuschauen, bringt uns aber im Zusammenhang mit der Frage der GID nicht wirklich weiter. Die heutige Psychologie weiß um die Fragwürdigkeit der Phasenkonzeptionen, sowohl was deren gestufte Abfolge anbelangt, als auch um die fragwürdige strikte zeitliche Verortung. Aber sicher sind die Phasenmodelle von Eriksen und später dann Havighurst sehr viel lebensnäher an der Realität orientiert, als die Geschichten aus
"Tausend und einer Nacht"...Frank hat geschrieben:Wenn man dann noch beachtet das "Soziologie" grundsätzlich nur eine Aussensicht oder eine "Gruppensicht" behandeln und wahrnehmen kann, wenn sie nicht bedingungslos die Selbstaussage (deren Reflektionsaspekte ja auch relevant sind) anerkennt.
Das darf man der Soziologie aber nicht übel nehmen! Die Soziologie befasst sich nicht mit dem einzelnen Individuum oder gar mit dessen Selbst-Aussagen und -Reflexionen. Der Betrachtungsgegenstand der Soziologie sind Gesellschaften und soziale Groß"gruppen", nicht aber das Individuum! Und selbst die "Gruppen", die die Soziologie thematisiert, sind im Regelfall keien face-to-face-Kleingruppen, sondern vielmehr nominelle bzw. virtuelle Gruppen, z.B. Angehörige einer bestimmten Blutgruppe oder auch z.B. die "Gruppe" der TS - wie wir wissen ein Sammelsurium einer Vielzahl von Individuen, die verschiedenartiger kaum sein könnten...
Das "Problem" der mangelnden Befassung mit Geschlechtsidentität ist also ein originär psychologisches, denn es ist das Individuum, seine Erleben (Selbst; Personale Identität) und Verhalten, das den Forschungsgegenstand der Psychologie darstellt oder besser darstellen sollte, was z.B. eine immer noch ausstehende, neuzeitlichem Erkenntnisstand angemessene Geschlechtsidentitäts-Konzeption anbelangt.
Frank hat geschrieben:Wie schaut es aber mit der "Selbstaussage" in Bezug zum Geschlecht aus?
Hier dürfte die Frage nach den Reflektionsaspekten die Relevante Frage sein.
Reflektiert ein Mensch der zu seinem Geschlecht eine Aussage trifft den Aspekt der eigenen Körperwahrnehmung oder den Aspekt der sozialen/gesellschaftlichen Erfahrungen in Bezug zu seinem Geschlecht? Oder vermischen sich beide Aspekte miteinander?
Genau darum geht es, bzw. darauf sollte eine adäquate wissenschaftlich-fundierten Konzeption Bezug nehmen!!!
Dazu wäre aber einiges auszuführen, und das ist dann auch nicht einfach mal so eben dahingeschrieben. Deshalb werde ich hierzu demnächst Weiteres ausführen.
Frank hat geschrieben:Bei der Theorie die Vanessa mit Hilfe der NBID begründet vertritt ist definitiv eine große Vermischung der Reflektionsaspekte zugrunde gelegt.
Der VTSM jedoch sieht als Relevante Grundlage vor allem die Körperwahrnehmung, da dies auch der erste und aus unserer Erfahrungssicht der Relevante für Transsexualität ist.
Dazu kommt das es ebenfalls Phänomene gibt die gänzlich ohne diese Körperaspekte in Bezug auf "Trans*" existieren.
Hier zu Behaupten das es die Reflektionsaspekte sind die als Ursache für die jeweiligen Phänomene stehen, ist dabei ein Ansatz bei dem eben genau die Grundlage für die jeweiligen Beschreibungen zu suchen ist. Hier ergibt sich dann auch die Erklärung : TS ist etwas ANDERES wie Trans*.
Darauf werde ich ggfs. später noch mal eingehen, nachdem ich meinen Ansatz skizziert habe...
Frank hat geschrieben:Wobei man eben auch sehen muss das die Identität des Individuums hiermit gar nicht Beschreibbar ist.
Identität beinhaltet sehr viel mehr und sie besteht eben sowohl aus der Selbstreflektion der eigenen Körperwahrnehmung wie eben auch aus der sozialen Interaktion und der Reflektion selbiger.
Deshalb ist die Aussage : Es gibt keine Geschlechtsidentität!
durchaus berechtigt, denn es gibt tatsächlich keine "Geschlechtsidentität" die als solche vorhanden ist, sondern das eigene "Geschlechts-zugehörigkeits- Empfinden" ist immer nur ein Bestandteil der individuellen Identität.
Liebe Grüße,
Frank
Wer hätte jemals behauptet, daß die individuell erlebte Geschlechtsidentität universell tupfengleich ausgeprägt und erlebt werden muß? Deshalb muß man aber doch bitte nicht gleich "das Kind mit dem Bade ausschütten", und das Vorhandensein von Geschlechtsidentität grundsätzlich in Frage stellen...
LGe Seerose